Scheiß auf Perfektion!

Die Sonne sticht, und der Himmel strahlt morgens um 9 Uhr dunkelblau und wolkenlos. Die Motorräder stehen bereit im weißen Kalk von Ultraterrain auf 900 Metern Höhe.

Wir sitzen im Welcome Center bei einem Kaffee, sind zum Offroad fahren hier, wollen besser, relaxter, sicherer fahren auf losem Untergrund – weil wir gerne Motorrad fahren und auch, weil wir Reiseziele haben, bei denen wir halbwegs passabel durchkommen wollen.

Die Vorfreude ist groß. Aber jede von uns hat auch ihren Stein im Magen. Kennt Ihr das, Vorfreude und Unruhe zugleich? Und je näher „es“ kommt, je größer die Unruhe? Genau so.

Tina Meier ist eine erfahrene Trainerin. Sie ist eine ausgezeichnete Motorradfahrerin. Dennoch fährt sie uns wenig voraus an diesen beiden Tagen. Und bevor wir überhaupt aufs Motorrad steigen, reden wir und schreiben auf. Was wollen wir den abends können? Wir grübeln, weil Tina unsere Ziele gerne präzise wissen will. Weil wir uns präzise vor Augen führen sollen, was wir erreichen wollen. „Und was könnte Euch hindern, Euer Ziel zu erreichen?“ Ach, ja, voilà – da kommt der Grund für den Stein im Magen.

Der Stein, der Unruhefaktor sieht bei jeder etwas anders aus: Perfektionismus und zu hohe Ansprüche, Angst vor Blamage, Angst vor Versagen. Oder übersetzt: Jede will mich auf keinen Fall vor allen anderen sauber auf die Nase legen, ich will mich nicht völlig blöd anstellen, ich will mich nicht in peinliche Situationen manövrieren.

Wir räumen mit Tinas Hilfe die Steine aus dem Magen weg, das geht erstaunlich schnell und gut, wir haben ein klares Bild im Kopf, was wir lernen und können wollen, und los geht’s auf die Motorräder.

Natürlich stochern wir anfangs steif im Kreis, und das Verdrehen der Augen in eine ungefähre Zielrichtung hat mit Blickführung nichts zu tun. Na gut, wir lernen, das Ziel vor Augen ohne Stein im Magen. Tina sagt, wir sollen Samba tanzen. Wie jetzt, auf dem Motorrad? Also bewegen wir unsere Allerwertesten von Pylone zu Pylone. Vermutlich sieht es schräg aus, aber mit Samba im Kopf bist Du locker auf dem Mopped. Nach kurzer Zeit fahren wir größere Runden im Park, lernen, was die Sprunghaltung von Sven Hannawald mit steilen Auffahrten zu tun hat und haben einen Heidenspaß. Tina steht neben der für uns Fahrerinnen vermeintlich schwierigsten Stelle, gibt Körpersignale, und wir wissen: „Cobra Power“! Mutig das Herz voraus, Kopf hoch! Oder „Playmobil“ … den Hintern gestreckt nach hinten über das Nummernschild schieben, Arme lang – und runter die Abfahrt. Wir wollen gar nicht mehr vom Motorrad. Klappt was nicht? Egal, nochmal. Nicht optimal, aber auch nicht schlecht? Prima, wird bald besser. Keine gibt sich Haltungsnoten, die selbstauferlegte Blamage-Schranke im Kopf ist weg. Am Ende bin ich besser als am Anfang. Das zählt.

Am Abend des ersten Tages frage ich Tina, was sie denn anders mache? Klar, sie geht meist zu Fuß und mit Sonnenhut vor uns her, sie lässt uns fahren statt bremsen, wir machen kein Sektionstraining – das sind augenscheinliche Unterschiede zu dem, was ich an Trainings bereits kenne. Aber Tina arbeitet auch mit anderen Methoden, und was so spielerisch und wenig hardcore rüberkommt, wurzelt in professionellem Mentaltraining und brain-friendly learning bzw. teaching. Das heißt unter anderem: Mach Dir erst das große Bild von Deinem Ziel, dann kannst Du auch die einzelnen Schritte zuordnen. Oder: Wenn Du Dich bedroht fühlst, lernst Du nichts – also räum Deinen Stein im Magen erst weg. Oder auch die Affirmation zu verankern, wenn etwas wirklich gut gelingt, genau dann. Ich kenne mich beileibe nicht mit mentalen Trainingsansätzen im Sport aus, aber wir fühlen uns allesamt echt gut und kommen voran, in unserer Anfängerstufe wirklich passabel.

Ich bin sehr gespannt, ob der Effekt von Tag eins die Nacht überstehen würde. Man kennt das – abends euphorilgetränkt ins Kissen sinken, und beim Aufwachen ist alles wieder wie früher. Von wegen! Tag zwei ist sehr heiß, staubig, sonnig, anstrengend. Wir merken gar nicht, was wir alles lernen, wir fahren einfach und fühlen das Motorrad und spüren die Rückmeldung, ob es gut ist oder besser ginge. Vor jeder neuen Herausforderung gibt es einen kurzen Check, was uns erwartet, wie wir das meistern. Dann: „Das könnt Ihr!“ OK, Tina weiß das. Dann machen wir das. Am Ende des zweiten Tages geht’s in den Wald auf einen schmalen Pfad, der sich – gespickt mit Wurzeln, Steinen und Rillen – um Bäume herum und durch Heckenwald windet. Einen Tag vorher wäre das für mich eine reine Mountainbikestrecke gewesen. Jetzt habe ich den größten Spaß mit der X-Challenge, und auch wenn ich das Motorrad ins Gestrüpp parke, mit aller Kraft wieder rausziehe, mich um die Baumstämme quäle, fluchend zurückschiebe, weil ich erneut die Wurzel falsch angefahren habe, gefühlte hundertmal auf- und absteige und am Ende kaum mehr die Kupplung ziehen kann, aber ich hab das Motorrad da durchbekommen und es war – sorry – leider geil! Und Tina sieht zu, lacht herzlich. Sie lacht, als mir der Hintern wegrutscht in der schlammigen Pfütze, als wir vollkommen verschwitzt und fertig unterm Baum liegen. So ist das nämlich, wir lachen, weil es lustig ist und nicht peinlich, weil wir es irgendwie hingekriegt haben, wir freuen uns über triefnass erschöpfte Gesichter. Über das Gefühl: Ich kann das noch besser.

Wir Menschen sind verschieden, jede/r lernt anders. Unsere Gruppe hat von Tinas Dirtgirls Training durchweg profitiert. Und für mich persönlich gilt: Gerne jederzeit wieder!

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